Ein Ausschnitt aus dem Buch «Duft des Lebens», das ich neulich gelesen habe: «Für die tiefe Zuneigung, die Aviv für ihn empfunden hat, wusste er erschreckend wenig über ihn. Trotz all der tiefgründigen Begegnungen mit ihm, war es Aviv nicht gelungen, in die wirkliche Welt dieses Mannes einzudringen. Warum tun wir uns so schwer damit, jemanden wirklich kennenzulernen? Jemanden zu begreifen? Ende vierzig mochte er gewesen sein, höchstens fünfzig. Und seine Seele schien bereits die eines vom Leben ausgereiften Mannes zu sein. Weise. Vielleicht wurde sein Freund deshalb einfach mitten aus dem Leben gepflückt. Wie eine Blume, deren Blüte vollends entfaltet ist. Vielleicht war er reif gewesen zu gehen. Aber was macht ein Leben zu dem, auf das man am Ende blickt? Ist es lediglich die Summe aus getroffenen und versäumten Entscheidungen? Sind es unmerkliche Strömungen, die uns in Richtungen treiben, die wir nie einschlagen wollten? Ist es der Zufall, der uns dann und wann aus den unüberschaubaren Möglichkeiten des Lebens befreit? Sind es die Menschen, denen wir begegnen? Die Launen des Schicksals, die unser Leben in so viele Stücke schneiden können, dass es sich hinterher nicht mehr zusammensetzen lässt?»
Sicher ist doch, dass wir alle nur Besucher auf dieser Welt und zu dieser Zeit sind. Wir alle kommen, um irgendwann wieder zu gehen. Und genau so wenig, wie wir angesichts dieser Tatsache je etwas besitzen können, können wir je etwas verlieren. Denn alles ist miteinander verbunden, über alle Zeit hinaus. «Wie eine Blume, deren Blüte vollends entfaltet ist» - das symbolisiert wunderbar den ewigen Kreislauf des Lebens mit all seinen Wandlungsphasen: der Baum wächst in die Länge und bildet Knospen. Diese öffnen sich irgendwann zu Blüten. Er entfaltet sich in allen Farben und Formen, nährt auch andere mit seinen Früchten. Bis irgendwann die Zeit kommt, in der er vermeintlich alles abwirft und loslässt. Ein bisschen wie sterben. Aber schau genau hin... Der Baum bleibt in seiner Essenz bestehen, tief verwurzelt.
Was wir zurücklassen, wenn wir gehen, bleibt und lebt weiter. So wie das, was der Baum abwirft, die Erde weiternährt, hinterlassen auch wir Spuren im Herzen unserer Mitmenschen und Fussabdrücke auf dieser Welt. Wir sind jederzeit geschützt und sicher. Ein Teil von allem. Es gibt nichts zu verlieren. Also lasst uns vermehrt sanft und liebevoll in die Welt von anderen eintauchen, sie wirklich kennenlernen und in ihrer Tiefe begreifen. Lasst uns vermehrt etwas riskieren, ohne ewig abzuwägen, wenn es zu unserem eigenen Glück ist, und niemand dafür zu Schaden kommt. Lasst uns auch mal einfach zu neuen Ufern treiben, ohne ein bestimmtes Ziel einzuschlagen, und die Segel wieder neu setzen, wenn es uns dort wo wir landen nicht gefällt. Lasst uns mutig sein, und für uns und unsere Bedürfnisse einstehen. Lasst uns die Fäden unseres Lebens in die Hand nehmen, und es zu dem machen, auf das wir am Ende blicken wollen. Lasst uns leben!